CMD: Ein komplexes Krankheitsbild

Nach epidemiologischen Studien leben circa sechs Prozent der europäischen Bevölkerung funktionsgesund, wogegen die Prävalenz von objektiven Befunden einer CMD ohne Nachweis von subjektiven Beschwerden bei 85 Prozent liegt.

Demnach ist ein Großteil der Bevölkerung mit auslösenden Störfaktoren konfrontiert und reagiert darauf mit progressiven und/oder mit regressiven Gewebeadaptationen. Diese Strukturveränderungen können jahrelang neuronal kompensiert bzw. toleriert werden und bleiben klinisch im Sinne einer stummen CMD unauffällig. Ein CMD-Vollbild mit sistierenden objektiven und subjektiven Symptomen haben nur circa neun Prozent der Bevölkerung entwickelt. In dieser Gruppe ist die Toleranz gegenüber den Störfaktoren verloren gegangen und als Folge davon die neuronale Kompensationsfähigkeit zusammengebrochen.

Im Geschlechtsvergleich sind Frauen etwa fünfmal häufiger als Männer von einer CMD betroffen, wobei der Altersgipfel zwischen 30 bis 34 Jahren liegt. Die Prävalenzwerte der CMD-typischen Beschwerden steigen im Übrigen dramatisch an, wenn Symptome wie Spannungskopfschmerz, Migränebeschwerden, Nacken- und Rückenschmerz, Ohrgeräusche bzw. Tinnitus, Hörminderung, Gleichgewichtsstörungen, Schwindel, Schluckbeschwerden, Sprech- und Geschmacksstörungen, die bislang nicht primär „zahnärztlichen Erkrankungen“, sondern Erkrankungen aus anderen Fachgebieten (siehe oben) zugeordnet wurden, in die Auswertung mit ein bezogen werden.

Die Auswertung der relevanten Fachliteratur bezüglich der Ätiologie der CMD belegt vier auslösende Störfaktoren, wodurch die Multikausalität beziehungsweise die multifaktorielle Genese der Erkrankung deutlich wird. Im Einzelnen werden folgende Ursachen beschrieben, die natürlich auch als Kombinationen auftreten können:

Die dentookklusalen Störfaktoren und die traumatisch-chirurgischen Störfaktoren fallen ins Fachgebiet der Zahnmedizin beziehungsweise der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie, der Pädiatrie, der Logopädie, der Orthopädie und der Manuellen Medizin.

Die dentookklusalen Störfaktoren werden den prä- und postnatalen Entwicklungsfehlern der Zähne und den erworbenen Erkrankungen der Zähne und der Parodontien, inklusive der parodontalen Umbauvorgänge sowie den durch zahnärztliche Intervention bedingten Faktoren zugeordnet. Sie betreffen demnach Malokklusionen nach Zahnwanderungen bzw. -kippungen oder durch Gleithindernisse, Supraokklusionen bei Elongationen oder bei Frühkontakten, Non- beziehungsweise Infraokklusionen bei Zahnverlusten und Zahnkippungen, falschen Kieferrelationen mit Kondylusverlagerungen durch Zwangsokklusionen oder fehlerhafte Bissnahmen bei prothetischen Restaurationen und kieferorthopädische, konservierende sowie prothetische Behandlungen.

Zahnärztliche Eingriffe während des Kiefer und Muskelwachstums der beiden Dentitionen können, wegen der noch ausgeprägten, biologischen Formanpassungsfähigkeit des sich entwickelnden Organismus, wesentlich weitreichendere Schäden verursachen als entsprechende Behandlungen beim Erwachsenen, dessen Knochen- und Muskelgewebe nur noch begrenzt umbaubar ist. Das Problem des iatrogenen kieferorthopädischen Therapiefehlers liegt in der Beeinflussung der natürlichen Zahnangulationen, wobei Korrekturen der Achsenlage des oberen, ersten Molaren den größten Risikofaktor einer dentookklusalen Störung darstellen, weil der 6-Jahr-Molar die Angulationen aller nach ihm durchbrechenden Ersatz- und Zuwachszähne mit Ausnahme der Frontzähne beeinflusst. Somit muss die Einebnung der Spee’schen Kurve, wie sie bei der Straight-Wire-Technik angestrebt wird, im juristischen Sinn als Behandlungsfehler angesehen werden.

Die traumatisch-chirurgischen Störfaktoren betreffen mechanische Verletzungen und MKG-chirurgische Eingriffe an den Kiefern (vor allem am aufsteigenden Ast und am Kondylus), an den Zähnen, am Kiefergelenk und an den Wirbelsäulengelenken sowie der assoziierten Muskulatur mit der Folge der Ausbildung von Größen-, Form- und Lageveränderungen sowie von Unterentwicklungen (z. B. Kondylusasy mmetrien) nach abgeschlossener Wundheilung.

Die orthopädischen Störfaktoren sind im Fachgebiet der Orthopädie, der Manuellen Medizin, der Pädiatrie, der Logopädie, der Zahnmedizin und der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie angesiedelt. Sie betreffen prä- und postnatale Entwicklungsfehler und erworbene Erkrankungen der Knochen, Gelenke und Muskeln der Wirbelsäule mit resultierenden Haltungsbeziehungsweise Stellungsfehlern der Halswirbelsäule einschließlich Entwicklungsfehler und erworbene Erkrankungen der Kiefer, des Kiefergelenkes, der Kaumuskulatur und der Zunge (z. B. als Wachstumshemmung durch Daumenlutschhabits mit Folge der Persistenz des infantilen Schluckens) sowie orthopädisch-chirurgische Eingriffe an der Wirbelsäule.

Die psychosozialen Störfaktoren werden naturgemäß dem Fachgebiet der Psychiatrie und der Psychologie zugeordnet.

Überraschenderweise sind nur sehr wenige Studien veröffentlicht, die sich mit der Frage nach der epidemiologischen Verteilung beziehungsweise der demografischen Häufigkeit der benannten Störfaktoren beschäftigen. Es liegen aber aktuelle Daten einer zunehmenden Dominanz der psychosozialen Störfaktoren im Verlauf der letzten Jahrzehnte vor. Über welche Mechanismen psycho sozialer Stress (als Synonym für Störfaktoren) zur Entwicklung einer CMD beitragen kann, wurde von Gameiro et al. in einem Review dargestellt. Danach kann Stress die Prozesse der Schmerzleitung und -Wahrnehmung im Sinne einer psychosomatischen Projektion (Somatisierung oder somatoforme Störung) tief greifend modulieren. Im Weiteren kann der Bruxismus und die Compressio dentalis (Zähnepressen) als Zeichen einer Stressbewältigungsstrategie angesehen werden und dem Schutz vor chronischen Stresskrankheiten dienen. Das unphysiologisch verstärkte Zähneknirschen und -pressen kann überzeugend mit dem transaktionalen Stressmodell von Lazarus und Laurier erklärt werden, wonach jede Person über eine individuelle Stressbewältigungskompetenz (aktives und passives Coping) verfügt. Bei der aktiven Bewältigung nach der Frustrations-Aggressions-Theorie erfolgt die aggressive Reaktion auf somatisch-muskulärer Ebene als archaische Kampfreaktion. Bei der passiven Bewältigungsstrategie löst die Frustration eine Resignation und nachfolgend eine Depression aus.

Genauso wie die psychosozialen Stressfaktoren erzeugen auch die drei anderen Störfaktoren eine neuronal kontrollierte Muskelhyperaktivität oder Hypertonisierung der Kaumuskulatur mit fehlenden Ruhephasen, die mit dem Terminus Parafunktionen definiert ist und primäre Struktur- und Funktionsschäden an der Muskulatur auslöst. Diese sind dann die Ursache für sekundäre Folgeschäden an Kiefergelenken, Parodontien, Zähnen, den angrenzenden Weichteilen sowie an der Nackenmuskulatur und an den Halswirbelsäulengelenken.

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